So nah ist der Fluss

„Gut, dass die Brücke jetzt abgerissen wird.“

Der alte Mann sitzt im Gras. Er ist gestürzt. Ich habe mein Laufen abrupt gestoppt. Ich will ihm aufhelfen. Er will nicht aufstehen. Er wirkt nicht verletzt. Er will einfach sitzen bleiben. Gut, dass es schon spät im Frühjahr ist, das Gras ist trocken. Der alte Mann sagt es noch einmal. „Gut, dass sie sie jetzt abreißen.“ Er deutet auf die Brücke oberhalb von uns. Ich wundere mich. Ein alter Mann hält eine schöne, alte Brücke für nicht erhaltenswert? Ich beuge mich zu ihm. „Sie finden das gut – warum?“ Der alte Mann streckt seine Beine im Gras aus. Sein Blick geht von der Brücke zum Fluss hinunter, hinauf zur Brücke und wieder hinunter zum Fluss. „Ach“, sagt er, „sie ist schon lange weg.“ Er sagt es zu sich, nicht zu mir. Ich hocke mich neben ihn. Ich war am Rückweg meiner Laufstrecke zum Winterhafen und retour in die Stadt. Wer ist ‚sie’? Hat er in seinen Gedanken die Brücke schon abgerissen? „Wer ist schon lange weg?“ Ich schaue dem alten Mann direkt ins Gesicht. Alles an diesem Gesicht ist alt. Die Haut, hauchdünn, so dünn, dass keine Furchen mehr einen Halt finden, die Augen, die sich tief in den Kopf hineinzuziehen scheinen, der Mund, der kleine kreisende Bewegungen vollführt, auch wenn er nicht spricht. „Sie, mein Mädchen.“

Ich setze mich neben den alten Mann ins Gras. Ich möchte wissen, wer dieses Mädchen ist. Und mit dem Namen, den mir der alte Mann nennt – Norah – kommt die Erinnerung über ihn. Im Kinderwagen habe er sie schon über die Brücke geschoben, sein Mädchen, seine Tochter. Aus dem Kinderwagen heraus habe sie dem Fluss zugewinkt. Später sei sie an seiner Hand über die Brücke gegangen. Einmal habe sie sich von seiner Hand gelöst und sei weit vorausgelaufen. „Und wie ich sie eingeholt habe, sehe ich, dass sie auf eine Querverstrebung hinaufgestiegen ist und ihr kleiner

Oberkörper weit auf die Fahrbahn hinaushängt. Ich habe sie angeschrien. Nie zuvor und niemals nachher habe ich sie so angeschrien. Weinend ging sie an meiner Hand nach Hause.“

Der alte Mann ist weit weg. Ich sitze irgendwie unbequem auf der Erde, ich traue mich nicht, mich zu rühren. Da rührt er sich. Er stützt sich mit den Armen nach hinten am Boden ab, hebt vorsichtig sein linkes Bein und legt es wieder ins Gras. „Später“, er spricht weiter als hätte es keine Pause gegeben, „später sind wir mit dem Fahrrad über die Brücke gefahren, auf der anderen Seite.“ Der alte Mann macht eine Kopfbewegung Richtung Brücke. „Und noch später ist sie alleine über die Brücke gegangen, mit ihrem weißen Cellokoffer am Rücken, auf dem Hinweg zur Musikschule, auf dem Rückweg von der Musikschule. Manchmal ist sie später vom Musikunterricht gekommen, als ich gerechnet habe. Da hat sie gesagt, sie sei noch auf der Brücke gestanden und habe ins Wasser geschaut.“ Lange bleibt der alte Mann bei einem Bild in seinem Kopf.

„Meine Schwester hat sich ihr Leben lang Vorwürfe gemacht. Sie war es, die Norah zum Cello Spielen gebracht hat. Sie hat es nicht absichtlich herbeigeführt, nein, es war Norah, sie wollte Cello spielen lernen. Von klein auf hat sie meine Schwester spielen gehört, vom ersten Stock herunter. Sobald Norah Stufen steigen konnte und meine Schwester zu spielen begann, ließ sie jedes Spielzeug liegen und ging ‚Musik suchen’. So sagte sie ‚Musik suchen’. Und sie hat sie gefunden, die Musik oder die Musik hat sie gefunden. Sie ist eine begeisterte und eine gute, nein, eine sehr gute Cellospielerin geworden. Mit Kollegen und Lehrern von der Musikschule ist sie schon aufgetreten, bei Preisverleihungen im Rathaus, bei Lesungen in der Landesbibliothek oder im Konzerthaus . . .“, der alte Mann hebt kurz den rechten Arm und deutet hinter sich, „im Foyer– kleinere Auftritte.“ Der alte Mann schaut mich zum ersten Mal an. „Das war ihr zu wenig, sie wollte auf die Bühne, in den Konzertsaal, den großen Konzertsaal. Meine Schwester spielte dort, zweimal im Jahr, sie war Mitglied bei einer (Linzer) Konzertvereinigung, sie war Musikprofessorin gewesen, und bei dieser Vereinigung konnten auch Laien spielen. Bei jedem Konzert saßen wir in der ersten Reihe, im rechten Block. Meine Schwester hatte ihren Platz am Bühnenrand, wir saßen vielleicht zwei Meter von ihr entfernt. Meine Schwester schaute nie zu uns. Norah verstand das nicht. Es war ihr Traum, selbst einmal auf diesem Platz zu sitzen. Nicht, dass sie Berufsmusikerin werden wollte, nein, sie vernachlässigte auch die Schule nicht, sie wollte einfach so sein wie meine Schwester.“

Der alte Mann setzt sich aufrecht, lockert seine Schultern, stützt sich auf die rechte Hand, beugt sich zu mir. „Und dann war es soweit – plötzlich, unvermutet, im letzten Jahr Gymnasium, vor der Matura. Meine Schwester erkrankte. Es war noch Winter, die erste Probe für’s Frühjahrskonzert war bereits angesetzt. Geplant waren zwei Stücke vor der Pause und nach der Pause das erste Klavierkonzert von Rachmaninow. Der Pianist hatte es sich gewünscht, es gab immer einen Profi als Solisten. Schon die zweite Probe konnte meine Schwester nicht mehr wahrnehmen, es gab keine Entscheidungsfreiheit, sie musste ins Krankenhaus. Ich weiß nicht, wer angefangen hat, Norah oder meine Schwester. Als ich es erfuhr, war es keine Frage mehr, es war bereits eine Aussage ‚Norah wird . . .’ Es mussten nur noch Orchester und Dirigent überzeugt werden. Zur zweiten Probe ging bereits Norah. Und wie sie ging – mit leuchtenden Augen! Und mit ebensolchen Augen kam sie zurück. Zum Üben ging sie in den ersten Stock. Wenn ich sie nicht Üben hörte, lernte sie für die Matura. Immer länger übte sie am Abend. Ich solle ruhig schlafen gehen, sagte sie, sie bleibe gleich oben zum Schlafen. Die Wohnung war ja leer, meine Schwester war im Krankenhaus. Norah blieb auch den Wochenenden oben. Sie verließ das Haus nur für die Schule und die Proben. Sie wurde blass. Ich schob es auf den langen Winter. Sie bekam Ringe unter den Augen. Ich dachte, sie ist jung, nach dem Konzert wird sie sich rasch erholen. Ich konnte ihr nicht sagen, sie solle die Schule vernachlässigen. Und dann kamen die ersten Proben mit dem Pianisten. Es war ein junger Russe, ein blasser, schlaksiger junger Mann, eher noch ein Junge. Norah übte bis tief in die Nacht. Einmal brachte ich ihr am Sonntag das Frühstück hinauf. Sie trug den Morgenrock meiner Schwester. Sie sah alt aus. Ich erschrak. Ich brachte ihr gesunde Sachen. Sie ließ die Hälfte stehen. Ich kochte ihr Lieblingsessen, sie ließ die Hälfte stehen. Nach der Generalprobe besuchte Norah meine Schwester im Krankenhaus. Der Tag des Konzertes war ein normaler Schultag. Ich hätte Norah krank gemeldet, sie wollte es nicht. Am Nachmittag kam kein Ton aus dem ersten Stock. Eine halbe Stunde bevor wir aufbrechen wollten, rief mich Norah zu sich hinauf. Sie trug das lange schwarze Konzertkleid meiner Schwester, die Haare hatte sie zum ersten Mal aufgesteckt. Mit diesem Kleid und dieser Frisur sah sie meiner Schwester verwirrend ähnlich. Sie hatte die Rolle meiner Schwester übernommen, nein, sie war meine Schwester. Es war gespenstisch . . .

Der gesamte Text ist veröffentlicht in ‚Die Rampe – Donau‘, Hefte für Literatur 2/14
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